Neben Erinnerung und Gedenken an den Zweiten Weltkrieg interessiert mich seit Jahren der Umgang mit schwieriger Vergangenheit im breiteren Sinne, also mit Kriegen, Genoziden und Massenmord. Insbesondere habe ich mich mit dem Export bzw. Import nationaler Modelle eines solchen Umgangs beschäftigt. Ein Paradebeispiel für diesen Prozess ist das Ansehen, das die deutsche „Vergangenheitsbewältigung“ seit einigen Jahrzehnten in vielen Ländern der Welt genießt.
Anlass für die Beschäftigung mit diesem Thema waren für mich Beobachtungen in Russland. Immer wieder war ich frappiert, wenn dortige Intellektuelle die Auseinandersetzung der Bundesrepublik Deutschland mit der NS-Vergangenheit als vorbildlich für Russlands Umgang mit den Verbrechen des Stalinismus darstellten. Je überzeugter jemand diesen Standpunkt einnimmt, desto schwammiger ist für gewöhnlich seine Kenntnis des historischen und gesellschaftlichen Kontexts sowohl der NS-Verbrechen als auch des Umgangs mit ihnen im Westdeutschland der Nachkriegszeit. Statt konstruktiv als Inspirationsquelle für konkrete Formen der Aufarbeitung zu dienen, lief die Diskussion über ein vermeintliches „deutsches Modell“ lange Zeit lediglich darauf hinaus, dass „die Deutschen es geschafft haben und wir nicht“.
Mit den Ursprüngen dieser kontextfreien Erinnerung in der postsowjetischen Debatte beschäftigte ich mich als erster Albert-Einstein-Stipendiat während eines Aufenthalts in Einsteins Sommerhaus in Caputh im Jahr 2007. In Fortsetzung dieses Forschungsprojekts stellte sich mir die Frage, wie der russische Fall im internationalen Vergleich eingeordnet werden kann. Im Jahr 2011 organisierte ich – inzwischen als Mitarbeiter des Einstein Forums – eine große internationale Tagung zur Aneignung des deutschen und anderer „Modelle“ in verschiedenen nationalen Kontexten, von Ruanda bis Japan und von der Türkei bis Kambodscha. Einige Jahre später schließlich veröffentlichte ich einen Sammelband mit dem Titel „Replicating Atonement: Foreign Models in the Commemoration of Atrocities“, in dem aus Perspektiven der Geschichtswissenschaft, der Soziologie, der Anthropologie, der Philosophie und der Politikwissenschaft sowie anhand persönlicher Erfahrungen Beispiele einer solchen Aneignung in Japan, dem Libanon, dem ehemaligen Jugoslawien, der Türkei, Kanada, Ruanda, Russland und Argentinien kritisch untersucht werden.
Mein Aufsatz in dem Sammelband zeichnet die Geschichte der Begeisterung der liberalen Intelligenzija in der spät- und postsowjetischen Zeit für das „deutsche Modell“ nach. Ich spreche hier von Westdeutschland als Projektionsfläche für interne Debatten oder auch, in Anlehnung an die Literaturwissenschaft, als Kontrastfigur. Deren Facetten bleiben ohne Bedeutung, weil sie nur dazu dient, bestimmte (kritisierte) Eigenschaften der Hauptfigur – hier: Russlands – stärker zu konturieren und die privilegierte Position des Kritikers zu unterstreichen, ohne jedoch eine konstruktive Lösung zu bieten.
Im Ergebnis der vergleichenden Betrachtung wurde jedoch klar, dass der sowjetische bzw. russische Fall nur eine von mehreren möglichen Formen der Rezeption von Arten des Umgangs mit schlimmer Vergangenheit aus anderen Ländern darstellt. Meine Einleitung geht detailliert auf die Gründe für den internationalen Erfolg des „deutschen Modells“ ein und identifiziert drei weitere, in den einzelnen Aufsätzen des Bandes illustrierte Formen seiner Rezeption:
- das Sprungbrett, bei dem die Erfahrungen anderer Länder kreativ angeeignet werden, also lediglich den Startpunkt für eine eigene Auseinandersetzung bilden, deren Form sich letztlich aus dem Kontext des eigenen Landes heraus entwickelt,
- die Messlatte, bei der solche Erfahrungen zu einem universellen Maßstab abstrahiert werden, an den sich alle Gesellschaften gleichermaßen zu halten haben, und schließlich
- die Deckerinnerung: wenn in einer Gesellschaft die Diskussion über den Umgang eines anderen Landes mit seinen Gräueltaten die Auseinandersetzung mit dem eigenen Trauma ersetzt.