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Blog zu “Putin kaputt!?”

In diesem Blog werde ich die Themen aufgreifen und weiterdenken, die mein soeben bei Suhrkamp erschienenes Buch „Putin kaputt!? Russlands neue Protestkultur“ behandelt. Es wird also um die Protestbewegung in Russland seit Dezember 2011 gehen, aber auch generell um den Wandel des Protestrepertoires in Russland wie auch des Repertoires staatlicher Reaktionen darauf. Wie schon im Buch ist es mir wichtig, Formen gesellschaftlicher Mobilisierung in Russland jenseits von Moskau und Sankt Petersburg einzubeziehen und die Dynamik des Protests im globalen Kontext und internationalen Vergleich zu behandeln. Auch in diesem Blog werde ich sicher mehr Fragen stellen, als ich beantworten kann.

 

Natürlich soll hier auch die Chronik des Protests weitergeführt und auf das aktuelle Schicksal der Menschen und Institutionen eingegangen werden, die ich im Buch vorstelle. Die Gefangenen des 6. Mai, der Koordinationsrat der Opposition oder die Protestszene in Tscheljabinsk am Ural werden hier ebenso zur Sprache kommen wie Wahlbeobachtervereinigungen oder neue ökologische Proteste. Ich werde aber keinen journalistischen Blog schreiben und zeitnah die politischen Ereignisse in Russland kommentieren, wie es Jens Siegert in seinem detaillierten Russland-Blog tut, sondern mich auf den Protest als solchen konzentrieren, und zwar vor allem auf diejenigen Aspekte, die aus sozialwissenschaftlicher Sicht besonders relevant sind. Ich möchte also weniger meinen publizistischen Senf zu den Sojawürstchen der Tagesaktualität geben als vielmehr die sozialwissenschaftliche Gemüsebrühe servieren, die auf lange Sicht deren Verdauung befördern soll – und Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, auch einen Einblick in die Küche geben, in der diese Brühe entsteht.

 

Genau damit – also mit einem methodologischen Problem der Protestforschung – möchte ich beginnen. Den Anstoß dazu gab mir ein Vortrag, den der Historiker On Barak letzte Woche im Einstein Forum hielt. Unter dem Titel „Re-Collections: Archival Activism in the Middle East” sprach er darüber, wie die Protestbewegungen in Ägypten und Israel seit 2011 die Vorstellungen davon verändert haben, was ein Archiv ist. Unter anderem ging es um die hochpolitische Frage, wer und wie die Revolution in Ägypten dokumentiert. Die Archive – von Flugblattsammlungen bis hin zu Internet-Fotoalben – werden später bestimmen, wie über die Revolution geschrieben wird. Dies gibt denen, die sie zusammenstellen, eine ganz besondere Deutungsmacht, auch wenn sie aus eigener Sicht „alles“ sammeln. In Ägypten stellt sich die Frage, ob man nur die Ereignisse im Januar und Februar 2011 („die Revolution vom 25. Januar“) als die eigentliche Revolution betrachtet – oder aber die Revolution bis heute weitergeht; und falls letzteres, welche der Proteste oder gesellschaftlichen Transformationen als Teil der Revolution begriffen werden und welche nicht.

 

In Russland stellt sich diese Frage auf noch kompliziertere Weise, da die Massendemonstrationen vom Winter und Frühjahr 2011-12, die meist mit „der“ Protestbewegung gleichgesetzt werden, den alt-neuen Präsidenten nicht entmachtet haben. Ist die Protestbewegung nun vorbei? Und wenn ja, wann (und wo) endete sie? Mit Putins neuerlichem Amtsantritt? Mit dem Abflauen der Massenkundgebungen (die allerdings weitergehen: vorletzte Woche versammelten sich allein in Moskau wieder Zehntausende auf einer Demonstration zum Jahrestag des brutal auseinandergetriebenen „Marschs der Millionen“)? Und wenn „die“ Protestbewegung weitergeht, was genau gehört dann dazu – wo doch der gemeinsame Nenner, die Forderung nach fairen Wahlen, inzwischen zumindest in den Hintergrund getreten ist? Sind die vielen neuen Wahlbeobachter-Initiativen Teil der Protestbewegung? Sind es die Proteste gegen die homophobe Gesetzgebung? Was ist mit Protesten für bessere Studienbedingungen oder gegen die Schließung eines Krankenhauses oder eines Forschungsinstituts? Was ist mit ökologischen oder Stadtbild-Protesten, die es ja schon seit Jahren gibt und deren Teilnehmer die Bewegung für faire Wahlen teils enthusiastisch begrüßten, teils auch sehr skeptisch beäugten? Gehört nur das zum Protest, was uns Beobachtern sympathisch und unterstützenswert erscheint? Oder auch rassistische Demonstrationen gegen saisonale Migranten?

 

Solche Fragen stellten und stellen sich meinen Kollegen und mir beim Aufbau der PEPS-Datenbank, die als eine wichtige Quelle meinem Buch zugrunde liegt. Welche Demonstrationen sollen wir in unsere Materialsammlung aufnehmen? Diese soll ja gerade die Unterschiede zwischen einzelnen Protestteilnehmern berücksichtigen und dem Umstand Rechnung tragen, dass die einzelnen Teilnehmer den Raum des Protests mit zum Teil sehr unterschiedlichen oder einfach völlig unklaren Forderungen, Vorstellungen und Anliegen betreten. Ab wann lässt sich nicht mehr von einer geeinten Bewegung – für faire Wahlen, gegen Putin und die Staats- und Regierungspartei – sprechen? Lässt sich die Bedeutung dieser Bewegung in verschiedenen lokalen Kontexten überhaupt erschließen, wenn wir nicht auch andere Protestveranstaltungen ähnlich detailliert dokumentieren? Müssen wir also nicht auch jeden Taxifahrer-Protest in Astrachan und jede Demonstration gegen verdichtete Bebauung in Uljanowsk aufnehmen, um diese dann anhand der Teilnehmerzahl und der jeweils dokumentierten Slogans mit den Protesten für faire Wahlen zu vergleichen?

 

Gerade weil sich solche Fragen immer wieder stellen, kann die Erforschung des Protests nicht gänzlich neutral sein. Was zu einer Bewegung zählt, wo ihr Start- und Endpunkt zu suchen ist und welche Erfolgskriterien angelegt werden – das alles sind hochpolitische Fragen. Protestaktivisten und politische Oppositionelle geben darauf jeweils unterschiedliche Antworten, und wir Forscher laufen immer Gefahr, uns von einer der möglichen Auslegungen leiten zu lassen. Dagegen hilft nur der Anspruch, die wissenschaftliche Erkenntnis über die politische Zweckmäßigkeit zu stellen – und möglichst die ganze Bandbreite der Interpretationen darzustellen. Mit diesen sind wir ja ständig konfrontiert, da auch unsere Quellen fast gänzlich von Protestteilnehmern stammen. Dies ermöglicht es uns, die Bewegung detailliert zu dokumentieren und so groben journalistischen Vereinfachungen entgegenzuwirken – wie etwa der Vorstellung, es handle sich um einen Aufstand der Moskauer Mittelklasse.

 

Diese Konstellation ist auch im russischen Fall nicht neu. Eines der größten Archive zur politischen Geschichte der russischen Emigration nach 1917 entstand aus der Sammlung des Exilpolitikers Boris Bachmetjew. Das exzellente Archiv der Forschungsstelle Osteuropa zur Untergrund- und politischen Literatur u.a. aus der ehemaligen Sowjetunion und dem postsowjetischen Russland konnte nur aufgebaut werden, weil Mitarbeiter wie der langjährige Archivar Gabriel Superfin selbst aus der Dissidentenszene stammten. Eine wahre Sammelwut setzte während der Perestroika ein: Damals entstanden mehrere bis heute ungemein wertvolle Sammlungen: etwa Andrej Alexejews Archiv, das inzwischen von der Sankt-Petersburger Gesellschaft Memorial aufbewahrt wird, oder Jelena Strukowas Abteilung für „nichttraditionelle Presse“ an der Historischen Bibliothek in Moskau. Damals entstanden auch mehrere Forschungszentren, die bis heute akribisch das politische Leben in Russland dokumentieren – allen voran das Panorama-Zentrum in Moskau. Auch sie lebten zunächst von den engen Verbindungen zwischen Forschern und Aktivisten.

 

Auch zu Beginn der aktuellen russischen Protestbewegung fanden sich viele Teilnehmer in einer Doppelrolle als Aktivisten und Forscher wieder und waren zwischen diesen beiden Perspektiven hin- und hergerissen. Mit der Zeit entwickeln sich vielfältige Antworten darauf, wie beides vereint werden kann: Die einen wandeln sich zu Vollzeit-Aktivisten; die anderen sehen sich als organische Soziologen, die die Bewegung erforschen, um ihr zu helfen; wieder andere verlegen sich ganz auf die wissenschaftliche Forschung.

 

Ironischerweise sind es aber gerade die, die nach Neutralität streben und einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit verteidigen, die der Staatsführung offensichtlich ein Dorn im Auge sind. Wo Information über Politik und Gesellschaft bewusst gesteuert, gestreut und manipuliert wird, wird das sozialwissenschaftliche Berufsethos selbst zu einer Herausforderung für die Herrschenden. Jüngster Beleg dafür: Im Zuge der jüngsten repressiven Maßnahmen gab es auch bei einer Reihe unabhängiger sozialwissenschaftlicher Forschungseinrichtungen Durchsuchungen, darunter einige, mit denen ich seit Jahren zusammenarbeite – wie das Zentrum für unabhängige Sozialforschung in Sankt-Petersburg oder das SOVA-Zentrum in Moskau. Das viel zitierte Lewada-Zentrum für Meinungsforschung erhielt vor wenigen Tagen eine „Warnung“ der Staatsanwaltschaft mit dem Hinweis, es solle sich fortan als „ausländischer Agent“ titulieren. An einigen Methoden dieses Zentrums habe ich im Buch und auch zuvor inhaltliche Kritik geübt, greife aber auch immer wieder auf seine Forschungsergebnisse zurück und profitiere seit über einem Jahrzehnt vom Austausch mit vielen der leitenden Mitarbeiter des Zentrums. Seit Beginn der aktuellen Bewegung führt das Lewada-Zentrum immer wieder Umfragen, Fokusgruppen und Einzelinterviews zu den Protesten durch und publiziert diese offen zugänglich auf seiner Webseite.

 

Der neuerliche Angriff auf Forschungseinrichtungen ist offensichtlich Teil eines Versuchs der Staatsführung, die Deutungshoheit über das politische und gesellschaftliche Geschehen im Lande wieder an sich zu reißen. Gerade die unabhängige Wissenschaft in Russland verdient massive internationale Unterstützung – schon da nur von ihr Analysen des Geschehens zu erwarten sind, die sich auf empirische Forschung stützen statt einfach nur politische Interessen vertreten, seien es die der Herrschenden oder die der politischen Opposition. Dass internationale Unterstützung in solchen Fällen Erfolg haben kann, zeigte im Jahr 2008 die massive Kampagne zur Rettung der Europäischen Universität in Sankt-Petersburg, die im Zusammenhang mit einem Projekt zur Wahlbeobachtung geschlossen worden war. Derzeit formiert sich in einer Facebook-Gruppe die internationale Unterstützung für das Lewada-Zentrum und andere unabhängige Forschungseinrichtungen. Alexander Tschepurenko, Dekan der Fakultät für Soziologie an der renommierten Staatlichen Hochschule für Wirtschaftswissenschaften, hat einen kollektiven Brief aufgesetzt, der die Staatsanwaltschaft auffordert, die Durchsuchungen einzustellen. Die repressiven Maßnahmen seien schädlich für Russlands Ruf in der Welt. Eine internationale Solidaritätskampagne könnte zeigen, wie sehr dieser Ruf bereits geschädigt ist, und die russische Führung möglicherweise sogar zum Einlenken bewegen.

 

Zum Zweck der Dokumentation veröffentliche ich hier meine Übersetzung einer Erklärung von Lew Gudkow, Direktor des Lewada-Zentrums:

 

20.5.2013

Die Sawjolower überbezirkliche Staatsanwaltschaft in Moskau hat dem Lewada-Zentrum eine Warnung zugestellt, aus der hervorgeht, die Veröffentlichung unserer soziologischen Forschungsergebnisse beeinflusse die öffentliche Meinung und stelle daher keine wissenschaftliche, sondern eine politische Tätigkeit dar. In diesem Zusammenhang veröffentlicht das Lewada-Zentrum folgende Stellungnahme seines Direktors Lew Gudkow:

Der Brief der Staatsanwaltschaft über „Umstände, die Verstöße gegen Bundesgesetze begünstigen“ (gemeint ist das Gesetz über „ausländische Agenten“) und die anschließende „Warnung“ bringen das Jurij-Lewada-Zentrum in eine äußerst schwierige Lage. Sie zwingen uns praktisch dazu, unsere Tätigkeit als unabhängige soziologische Forschungseinrichtung, die in Russland systematisch Meinungsumfragen veranstaltet, einzustellen. Indem sie die Veröffentlichung von Umfrageergebnissen, unserer Kommentare dazu sowie analytischer Aufsätze als „politische Tätigkeit“ interpretiert, setzt uns die Staatsanwaltschaft einerseits möglichen Zwangsmaßnahmen aus und untergräbt andererseits unsere Autorität und unser professionelles Ansehen. Die extrem unklar gefassten Begriffe „politische Tätigkeit“ und „ausländische Finanzierung“ können auf die willkürlichste und weiteste Art ausgelegt werden und liefern somit eine Grundlage, um Strafmaßnahmen gegen den Vorstand des Zentrums einzuleiten oder dieses sogar ganz zu schließen. Zudem entfaltet das Gesetz über gemeinnützige Organisationen und „ausländische Agenten“ eine gefährliche Wirkung in Kreisen, die für unser Zentrum als ständige Partner, Auftraggeber oder aber Forschungsgegenstände von Bedeutung sind.

Auf dem Spiel steht die Freiheit der Forschung und die Verbreitung von Forschungsergebnissen. Das Lewada-Zentrum ist eine gemeinnützige Organisation. Für uns bedeutet dies: Das Geld, dass wir durch Auftragsarbeiten (in erster Linie, aber nicht ausschließlich, in der Marketingforschung) verdienen, geben wir gemäß unserer Satzung für eigenständige und selbstverantwortete wissenschaftliche Projekte aus: soziologische Meinungsumfragen, die „Zeitschrift für Meinungsforschung“, regelmäßige Tagungen usw., nicht aber für den privaten Eigenbedarf.

Nach diesem Modell arbeitet unser Team seit fast einem Vierteljahrhundert systematisch an der systematischen Erforschung der Struktur, Funktionen und Dynamik kollektiver Vorstellungen. Während dieser gesamten Zeit konnten wir unseren Status als unabhängiges Forschungsinstitut bewahren.

Im Gegensatz zu anderen Meinungsforschungsorganisationen werden wir weder direkt vom Staat finanziert, noch bekommen wir staatliche Zuschüsse für die Durchführung soziologischer Umfragen, die grundsätzlich mit einem beträchtlichen finanziellen und Organisationsaufwand verbunden sind und in einigen Fällen einer unmittelbaren Unterstützung oder zumindest Genehmigung durch die Behörden vor Ort bedürfen. Die Zuwendungen ausländischer Stiftungen (in Form von Spenden oder über Ausschreibungen gewonnenen Drittmitteln) sowie die Vergütungen für Erhebungen im Auftrag ausländischer Organisationen (Universitäten, Medien, Forschungseinrichtungen oder Beratungsunternehmen) machen einen unbedeutenden Anteil des Budgets unseres Zentrums aus: je nach Jahr handelt es sich um 1,5-3 Prozent.

Eine freiwillige oder unfreiwillige Ablehnung von Zuschüssen oder Spenden verschiedener ausländischer Stiftungen, um die ständig drohende Etikettierung als „ausländische Agenten“ abzuwehren, stellt für uns keinen Ausweg dar. Als Anlass für den Vorwurf der Finanzierung aus dem Ausland und die Verknüpfung unserer selbst gestalteten wissenschaftlichen Forschungsprojekte mit dieser Anschuldigung kann bereits die Tatsache dienen, dass wir von ausländischen Unternehmen für Auftragsarbeiten bezahlt werden, auch wenn diese Unternehmen dauerhaft in Russland tätig sind, und obwohl diese Themen nicht das Geringste mit „politischer Tätigkeit“ zu tun haben.

Zwei weitere Umstände behindern unsere Arbeit heute in weitaus größerem Maße: zum einen die bewusst wiederbelebte und angesichts von Erfahrungen aus der Vergangenheit durchaus verständliche Angst der Beamten und Intellektuellen in Russland vor einem Umgang mit „potentiellen ausländischen Agenten“, zum anderen der Unwille unserer Geschäftspartner (die sich Unannehmlichkeiten ersparen wollen), mit einer Organisation zusammenzuarbeiten, die Ärger mit den Behörden hat.

Zusammengenommen stellt all dies den Fortbestand und die Arbeit des Lewada-Zentrums infrage. Würden wir der Logik der staatsanwaltlichen „Warnung“ folgen, müssten wir unsere Zeitschrift einstellen, unsere Webseite vom Netz nehmen und mit der Veröffentlichung, Kommentierung und Analyse unserer Umfrageergebnisse in den Medien, auf Seminaren und Tagungen aufhören. Darin können wir nicht einwilligen.

Zivilrechtlich gesehen läge die einzig richtige Lösung in einer Anfechtung der staatsanwaltlichen „Warnung“ vor Gericht mit anschließender Verfassungsklage gegen das Gesetz über ausländische Agenten. Ein solcher Weg ist allerdings für Organisationen wie die unsere zu langwierig; er käme einer Demontage unserer Forschungstätigkeit und irreversiblen wissenschaftlichen und personellen Verlusten gleich. Selbst im Fall eines positiven Ausgangs der Gerichtsverfahren würde diese Option daher nichts an der neuen Lage ändern, die es uns unmöglich macht, unsere bisherige Arbeit als unabhängiges Forschungsinstitut fortzuführen.

Derzeit berät sich die Leitung des Lewada-Zentrums mit Anwälten über mögliche Auswege aus dieser Situation.

Prof. Dr. Lew Gudkow

Leiter des Lewada-Zentrums

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